Wenn es einen Preis gäbe für den entschleunigsten Comic der letzten Jahre – Régis Loisels „Der Große Tote“ würde ihn sicher gewinnen. Denn kaum einmal erlebt man es, dass eine an für sich aufwühlende Story derart unaufgeregt in die Breite erzählt wird. Viele Leser, die es schätzen, wenn ein Comic sich Zeit nimmt für die Entwicklung seiner Geschichte, haben genau darin eine der Stärken der Serie gesehen. Andere sind freilich weniger geduldig. Die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo in der Mitte: Der Unterschied zwischen der langen Weile, die Loisels und Djians Geschichte braucht, um überhaupt Fahrt aufzunehmen, und der Langeweile, die einen dabei trotz der routinierten Erzählweise der Bände manchmal ankommt, ist in der Tat nur schwer zu benennen.

Worum geht es? Pauline, eine hübsche, selbstbewusste Studentin aus Paris, die gerade an ihrer Abschlussarbeit in Wirtschaftswissenschaften arbeitet, lernt durch eine Autopanne in der tiefsten bretonischen Provinz zufällig den Luftikus Erwan kennen, der in einer windschiefen Hütte lebt und sein Geld als Gärtner und Tagelöhner verdient. Erwan ist freilich nicht bloß ein sympathisches Landei mit Hang zu Tiefsinn und Grübelei. Sein Geheimnis, das er Pauline bereits kurz nach ihrer ersten Begegnung im Plauderton eröffnet: Er ist der „Überbringer“, und als solcher ist er von seinem Meister dazu ausgebildet worden, die Grenze zu überschreiten zwischen unserer banalen Alltagswelt und einer phantastischen Parallelwelt, die von merkwürdigen winzigen Wesen bevölkert wird, die ein wenig aussehen wie Aliens mit Rastalocken. Alles, was dazu notwendig ist, um in die Anderswelt zu gelangen, deren spiritueller Mittelpunkt das Skelett eines Menschen darstellt – eben der titelgebende Große Tote –, sind die „Tränen der Bienen“, eine Art Augentropfen, durch die schließlich auch Pauline unversehens zwischen die Welten und in das Abenteuer ihres Lebens gerät.

So weit, so gut. Das Grundgerüst und die Zutaten der Geschichte sind fürwahr nicht neu und werden jedem Leser, der sich in der phantastischen Literatur einigermaßen auskennt, schon aus zahlreichen anderen Zusammenhängen vertraut sein. Natürlich ahnt man auch, dass es irgendwann zum Konflikt zwischen Alltagswelt und Parallelwelt kommen muss, und dieser Konflikt bleibt in der Tat nicht aus – auch wenn Loisel und Djian sich sehr viel (und vielleicht stellenweise zu viel) Zeit nehmen, ihn anzubahnen.

Hier die Kurzfassung: Eine hermaphroditische Priesterin des kleinen Volkes namens Macara hat es offenbar darauf abgesehen, sich des Wissens beider Welten zu bemächtigen, um unsere Welt, die sie als zerstörerisch empfindet, ihrerseits zu zerstören. Dazu vergewaltigt sie – auf bisher ungeklärte Weise – zuerst die durch einen Zaubertrank betäubte Pauline und dann den durch das „Überbringer“-Ritual geschwächten Erwan. Pauline wird schwanger, ebenso die Priesterin selbst. Beide Schwangerschaften verlaufen, wie sich das für eine Fantasy-Welt gehört, ultra-beschleunigt, sodass Pauline bereits nach wenigen Monaten ein neunmalkluges dreijähriges Kind namens Blanche zu versorgen hat (das Kind Macaras heißt Sombre). Von jetzt an geht nichts mehr mit rechten Dingen zu: Blanche, die allen – einschließlich Pauline – irgendwie unheimlich ist, muss eine Taucherbrille tragen, um ihre Augen zu verbergen, die buchstäblich magische Ausstrahlung besitzen. In Gegenwart des Kindes geschehen außerdem immer wieder schreckliche Unfälle, sodass Pauline gezwungen ist, ein unstetes Wanderleben zu führen und immer neue Wohnungen zu mieten. Erwan, der auf der Suche nach ihr ist, seitdem er die Parallelwelt verlassen hat, findet sie mit Hilfe von Paulines bester Freundin Gaëlle schließlich trotzdem. Während in der übrigen Welt das apokalyptische Chaos ausbricht – soziale Unruhen, ein allmählicher Einbruch der Weltwirtschaft und am Ende des vierten Bandes ein gewaltiges Erdbeben –, ziehen sich Pauline, Erwan, Gaëlle und Blanche in die Provinz zurück; sie wollen vor allem verstehen, welches Geheimnis hinter Blanches Existenz steckt, und dafür – man ahnt es schon – müssen sie wieder nach drüben, in die geheimnisvolle Welt des Großen Toten, und die Macara, die hermaphroditische Priesterin, finden, die ihnen das alles eingebrockt hat.

Wie es das Schicksal so will, kommt nun zu allem Unbill auch noch ein Eifersuchtsdrama hinzu: Erwan und Pauline werden ein Paar, was allerdings Gaëlle, die sich in Erwan verliebt hat, zutiefst verletzt. In einer Kurzschlussreaktion setzt sie sich ins Auto und fährt zurück nach Paris. Das könnte den beiden Verliebten im Grunde genommen herzlich gleichgültig sein, denn eigentlich brauchen sie die ohnehin etwas naive Gaëlle ja nicht; nur leider befindet sich in Gaëlles Auto die letzte Phiole mit den „Tränen der Bienen“, die Erwan und Pauline eben erst aus dem Nachlass des inzwischen verstorbenen Meisters gerettet haben. Also bricht Pauline nach Paris auf, um Gaëlle zu finden, während Erwan mit Blanche auf dem Land zurückbleibt und versucht, das Kind mit der Parallelwelt, aus der es stammt, irgendwie in Kontakt zu bringen. Dann, am Ende des vierten Bandes, bebt allerorten die Erde, Tsunamis vertilgen die Kanarischen Inseln, auf dem ganzen Planeten bricht die Hölle los. Auch ganz Paris wird in Schutt und Asche gelegt. Pauline und Gaëlle überleben die Katastrophe (die auf noch unklare Weise von der hermaphroditischen Priesterin ausgelöst wurde) vergleichsweise unbeschadet und machen sich, weil erwartungsgemäß alle Straßen um Paris herum verstopft sind, mit einem Moped auf den langen Weg zurück zu Erwan und Blanche.

An dieser Stelle setzt die Handlung des hier zu besprechenden 5. Bandes der Serie ein (von der an dieser Stelle ohne Spoiler nicht berichtet werden kann). Und man muss sagen: Es ist der stärkste Band bisher. Endlich gewinnt die Handlung an Tempo, endlich entlädt sich das über vier Bände aufgezogene Unwetter, endlich stürzt die Handlung krachend und hagelnd und donnernd ihrem apokalyptischen Finale entgegen. Erstmals hat die Erzählweise Loisels und Djians alles Behäbige abgelegt, es gibt Szenenwechsel zuhauf, die Geschehnisse der Alltagswelt und der Parallelwelt werden virtuos ineinander gespiegelt, und atemlos blättert man als Leser von Seite zu Seite. Der Nachteil an dieser großartigen Spannungssteigerung, die im Titel des Bandes „Panik“ bestens zusammengefasst ist, besteht darin, dass man den Band nach nicht mal einer halben Stunde ausgelesen hat. Aber das nimmt man gerne in Kauf, wenn man andererseits so gut unterhalten wird.

Die Tuschearbeit Vincent Malliés ist übrigens wieder einmal sehr gut geworden. Man muss natürlich diesen cartoonartigen, unübersehbar an Regis Loisels Stil geschulten Strich mögen, um sein Vergnügen an den Zeichnungen haben zu können. Aber selbst wer damit Schwierigkeiten hat, den dürfte doch die fantastische, stimmungsvolle Koloration François Lapierres in ihren Bann ziehen. So schön ist nämlich selten mit digitaler Software gemalt worden, und man muss es einmal sagen (auch aus Sympathie für einen Job, der hinter den Autoren und Zeichnern meistens zurücksteht): Ein Großteil der ästhetischen Wirkung des Comics ist sicherlich den Farben Lapierres zu danken. Allein ihretwegen sind alle Bände von „Der große Tote“ schon eine Augenweide (im ersten Band zeichnete allerdings noch Jacqueline Charrance für die Farben verantwortlich).


">

Optionen und weiterführende Links



In der Datenbank befinden sich derzeit 18.263 Rezensionen. Alle Rezensionen anzeigen...

Der Große Tote 5: Panik - Das Cover

Zurück zur Rezension von Der Große Tote 5: Panik

Der Große Tote 5: Panik - Das Cover
?>