Story, Zeichnungen und Farben: Reto Gloor

Die Geschichte einer Heilung sollte es werden. Stattdessen wurde es eine Unheilsgeschichte. Reto Gloor macht keinen Hehl daraus, dass er seiner Krankheit, der Multiplen Sklerose, keine positiven Seiten abgewinnen kann. Seit ihm 2010 die Diagnose „MS“ gestellt wurde, befindet sich sein Leben in einem konstanten Auf und Ab aus Depression und Genesungshoffnung. Dabei durchläuft Gloor das gesamte Spektrum zwischen Schulmedizin und esoterischer Quacksalberei. Er kündigt seinen Job als Lehrer und versucht, sich als selbständiger Zeichner zu etablieren. Aber das misslingt – nicht nur wegen der Krankheit, sondern auch, weil es einfach verdammt schwer ist, als Comiczeichner die Füße auf den Boden zu bekommen (zumal in Frankreich, wohin es Gloor am meisten zieht). Der berufliche Misserfolg und der schleichende Verfall, den seine Krankheit bewirkt, drohen Gloors Lebenswillen zu brechen. Eine ungeheure Lebensmüdigkeit überkommt ihn. Er trägt sich mit Selbstmordgedanken, die Beziehung zu seiner Partnerin gerät ins Wanken, sein Leben kommt im Winter 2013, wie er selbst sagt, „zum Stillstand“.

Was ihn weiterleben lässt, was seinem Leben wieder einen Sinn gibt, ist der Comic „Das Karma-Problem“, an dem er von 2013 an rund zwei Jahre zeichnen wird (der dämliche RTL2-Untertitel, der bestimmt nicht auf Gloor selbst zurückgeht, bleibt hier besser unerwähnt). Darin erzählt er auf beeindruckend unprätentiöse Weise die Geschichte seines Lebens mit der Krankheit, die Geschichte auch seines Kampfes gegen diese Krankheit. Natürlich ist dieser Kampf paradox, weil die Krankheit ja in ganz entscheidender Weise über die Stärke ihres Gegners bestimmt. Es ist zum Verzweifeln, und Gloor verzweifelt auch. Nirgends aber nimmt seine Erzählung deswegen den Ton der Wehleidigkeit an, nirgends klagt er irgendwen an. Gloor ist – als Erzähler – ein nüchterner Beobachter dessen, was mit ihm – als Hauptdarsteller seines Lebens – geschieht. Dem einen oder anderen mag das zu nüchtern sein, und tatsächlich fehlen dem Comic auch die großen emotionalen (oder auch humoristischen) Momente. Eine einfühlende Identifikation mit der Hauptfigur fällt deshalb bis zum Schluss schwer. Der Modus des Berichtens, in dem der Comic abgefasst ist, gibt dem Leser keine Gelegenheit, ergriffen oder angerührt zu sein. Selbst die „leise, ironische Grundierung der Erzählung“, von der Gloor im Vorwort spricht, ist kaum vernehmbar. Kein Zweifel: Reto Gloor hat sich hier vor dem Leser in Schutz genommen – und dadurch auch vor sich selbst. Denn für sich selbst vor allem hat er diesen Comic ja gezeichnet. Es ist ein Überlebensprojekt, das im Grunde genommen noch längst nicht abgeschlossen ist, sondern die härtesten Prüfungen noch vor sich hat. Darüber kann auch der versöhnliche, nun doch ein wenig sentimentale Schluss („Ich glaube an die mächtigste Kraft des Universums: die allumfassende, bedingungslose Liebe“) nicht hinwegtäuschen.

Die emotionale Kühle des Comics mag auch mit dem notgedrungen eigenwilligen Zeichenstil Gloors zusammenhängen. Denn wegen der starken motorischen Einschränkungen, denen er wegen MS unterliegt, musste Gloor die Seiten mit der Maus am Rechner zeichnen. Seinem Stil gibt das eine abstrakte Umrisshaftigkeit, die sich nirgends an Details aufhält, sondern nur das Allernötigste kommuniziert. Die Farbgebung aus Schwarz, Grau und einem stark entsättigten Türkisblau passt sehr gut zu diesem eher reduktionistischen Stil. Verlieben kann man sich in diesen Stil nicht; aber angesichts der realen Umstände, auf die er zurückzuführen ist, entfaltet er doch eine ganz eigene Faszination.


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Das Karma-Problem: MS - Eine unheilbare Krankheit übernimmt die Kontrolle - Das Cover

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