Tibet, um die Jahrhundertwende 1900. Der Dalai Lama Mipam (eigentlich Mipham Jamyang Namgyal) wird von bösen Ahnungen und Träumen verfolgt. Tibet ist in Gefahr, der Tempel, spirituelles Zentrum des Landes, ebenso. Es wird Krieg geben, ahnt er, und tatsächlich: Der britische Tibetfeldzug von 1903 steht kurz bevor. Um sein Land und seine Religion vor dem Untergang zu retten, begeht Mipam Selbstmord, in einem rituellen Akt der Selbstverkleinerung. Ziel ist seine Wiedergeburt als Heilsbringer und Führer des Widerstands gegen die britische Okkupation. Mipam versäumt es natürlich nicht, kurz vor seinem Ableben den hinterbliebenen Mönchen den Ort und die Umstände seiner Wiedergeburt genau zu bezeichnen. Ebenso unterweist er sie in einer Prüfung, mit deren Hilfe sich sein reinkarniertes Ich zweifelsfrei ermitteln lässt. Dann stirbt der Meister. Oder auch wieder nicht. Denn ein solch heiliger Mann stirbt ja nicht einfach, sondern er erreicht, als sonnenstrahlender Miniaturmensch, den „Buddha-Zustand“, wie es im Comic heißt.

Der Prolog von Alejandro Jodorowskys fünfbändigem Comic-Zyklus „Der weiße Lama“ zeigt schon an, worauf die Geschichte insgesamt hinausgeht. Dabei ist der Comic weit davon entfernt, ein historischer Comic zu sein (oder gar ein "Kolonialepos", wie man in einer Rezension lesen konnte). Die tatsächlichen geschichtlichen Abläufe des Tibetfeldzugs interessieren Jodorowsky nämlich gar nicht, ebenso wenig die politischen Umtriebe des Dalai Lama und der buddhistischen Mönche. Sie dienen ihm lediglich als verschwommene Kulisse für eine Story, die unverkennbar auf der in den 80er Jahren allenthalben verbreiteten fernöstlichen Esoterikwelle surft. Da gibt es pseudobuddhistisches Gemurmel und Geschwafel in beängstigenden Mengen, Levitationen, Zaubereien, Dämonenbeschwörungen, Askesen und, last not least, Meditation um Meditation. Wenn man all diesen esoterischen, überzeichneten Plunder auf Seite schiebt, bleibt eine Geschichte zurück, die zahlreiche Versatzstücke typischer Heldenmythen und Heiligenlegenden zusammenklebt. Und natürlich ist jene Reinkarnation des Dalai Lama der titelgebende „weiße Lama“, nämlich ein britischer Junge namens Gabriel, der in der Obhut einer tibetanischen Familie aufwächst, nachdem seine Eltern von den Schergen des Verräters und Oberbösewichts Migmar getötet wurden. Nach dem Tod seines Stiefvaters Kuten geraten Gabriel und seine Stiefmutter und Schwester unter das strenge Regiment des Onkels Kesang, der den Jungen für einen Taugenichts und üblen Träumer hält, der „eiserne Disziplin“ zu lernen habe. Gabriel soll auf Wanderschaft gehen, Mönch werden und um Aufnahme ins Lama-Kloster bitten. Kesang schickt ihn, geschoren und um allen Besitz gebracht, hinaus in die Einöde. Damit beginnt für Gabriel eine lange Zeit der Demütigungen und Misshandlungen, die im Lama-Kloster, wo er letzten Endes Einlass erhält, ihren Höhepunkt finden. Der krude Mix aus Grausamkeiten und Traumgesichten, den Jodorowsky und Bess da gerührt haben, ist allerdings auf die Dauer nur schwer erträglich, und man ertappt sich dabei, dass man viele Seiten überfliegt, auf denen bloß irgendwer irgendwo in der Luft schwebt und irgendwelche Verse aus irgendwelchen buddhistischen Schriften faselt.

Über all das könnte man (buchstäblich) hinwegsehen, wenn andererseits die Geschichte stark erzählt wäre. Ist sie aber nicht. Denn mit zunehmender Seitenzahl verliert Jodorowsky das Interesse daran, die Story um den weißen Lama Gabriel plausibel und stringent aufzubauen und sie mit Charakteren zu bevölkern, die nicht bloß Oberflächenfiguren sind, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Die erzählerische Unbeholfenheit, die sich unter Jodorowskys dekorativer Esoterik letztlich verbirgt, zeigt sich verblüffend deutlich in der Szene, wo sich Gabriel, der inzwischen in die Obhut der Engländer geraten ist, nach vielen Jahren theologischer Studien in England dazu entschließt, zu seiner Stiefmutter und damit zu seiner ursprünglichen Bestimmung als Lama-Reinkarnat und Volksheld zurückzukehren. Da gibt es kein Zögern, kein Zaudern, nicht mal ein Wimpernzucken. Binnen weniger Panels hat der kultivierte Junge seinen feinen Anzug und seine gesamte Jugend abgestreift und sich in ärmliches Tuch gehüllt. In einer alten Legende mag solch eine Radikalbekehrung hingehen, aber nicht in einer nach modernen psychologischen Maßstäben erzählten Geschichte, wie sie Jodorowsky vorschwebt.

Danach versackt die Erzählung in allerhand Absurditäten und langatmigen Sequenzen, die aufzulisten hier den Rahmen sprengen würde. Man quält sich und beißt tapfer die Zähne zusammen – und wird am Ende doch nicht belohnt. Denn das Ende des Zyklus ist ja eigentlich keines, die Story war damals schon auf eine Fortsetzung hin angelegt. Die ließ allerdings über 20 Jahre auf sich warten. Die Frage ist freilich, wer da eigentlich außer Georges Bess noch gewartet hat.

À propos: Georges Bess Zeichnung sind das Einzige, was den Kauf dieses dicken und teuren Bandes einigermaßen rechtfertigen könnte. Man mag sie zu wuchtig finden, zu unruhig, zu knallig und zu psychedelisch koloriert, aber so war das eben Ende der 80er, als alle Welt bewundernde Blicke auf die Arbeiten eines gewissen Jean Giraud alias Moebius warf. Georges Bess ist da keine Ausnahme. Dass sein Stil aus heutiger Sicht etwas Staub angesetzt hat und mit dem des Meisters nicht mithalten kann, schmälert den guten Eindruck im Grunde nicht, zumal der Splitter-Verlag hier ja ausdrücklich eine historische Serie wiederveröffentlicht hat. Schade nur, dass es nicht die geringste Dokumentation zur Serie gibt, keine Extras, Skizzen oder was auch immer. Das hätte man aus editorischer Sicht ein wenig liebevoller machen können (von der wie üblich sauberen Verarbeitung des Bandes abgesehen).


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Der weiße Lama 1-6 - Gesamtausgabe - Das Cover

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