Die Welt steckt voller Erinnerungskitsch. Die Kindheit gehört in seinen Mittelpunkt. Sie ist, immer noch, der Sehnsuchtsort des fabrikmäßig schuftenden, desillusionierten Menschen, die herzerwärmende Anti-Utopie der modernen Kältezivilisation, und es ist kein Wunder, dass gerade die Romantiker von ihr schwärmten, zu Beginn eines Jahrhunderts, das das Glück durch den Profit ersetzte und die Biographie durch die Karriere. Schlimmer konnte es Sigmund Freud deshalb nicht treiben, als er der Kindheit um 1900 den Schleier der paradiesischen Reinheit nahm und sie zur Mördergrube tabuisierter und destruktiver Triebe erklärte. Der Mythos Kindheit, Symbol der Unschuld schlechthin, war damit zu Fall gebracht. Der Verdorbenheit der Welt und des menschlichen Herzens war fürderhin keine Grenze mehr gesetzt.

Aber nichts stirbt einfach so, selbst Götter nicht. Also blieb die sehnsuchtsvoll verklärte Kindheit als Gespenst der Gefühlsgrammatik bis heute am Leben – und als Phantasma alternder Schriftsteller, die das eigene Leben im milden Abendlicht betrachten und niemanden beunruhigen wollen, am wenigsten sich selbst.

So ein Schriftsteller war zum Beispiel der Franzose Marcel Pagnol. Er war schon über sechzig, als er seine schöngefärbten Kindheitserinnerungen schrieb, Bücher, die von Provence-Touristen ebenso gelesen wurden wie von Parteigängern des „Damals war alles besser“ und Kindheitsnostalgikern. Der 1957 erschienene erste Band dieser Kindheitserinnerungen hieß „Der Ruhm meines Vaters“, eine Art Hagiographie von Pagnols Kindheit und des Vaters, der diese Kindheit ermöglicht hat. Sechzig Jahre später, in einer anderen Zeit und Wirklichkeit, wurde unter der Regie von Serge Scotto und Éric Stoffel ein Comic daraus. Die entscheidende Frage ist: Warum bloß?

Die Autoren selbst versichern im Nachwort des Comics, Pagnol sei der „beste Geschichtenerzähler unserer belletristischen Literatur“, gar „der feinste Porträtist der menschlichen Seele, den es gibt“. Man hofft inständig, dass sie weder Balzac noch Flaubert noch einen anderen der großen französischen Romanciers je gelesen haben. Andernfalls müsste man sie für verrückt erklären – oder wenigstens entschieden feststellen, dass sie sich irren.

Auch sonst nehmen es die federführenden Herren mit der Wahrheit nicht ganz so genau. Für ihren Comic, beteuern sie, habe es „keine andere Vorlage“ als den Roman selbst gegeben, höchstens ein paar „Fotografien, die man sich anderweitig beschaffen kann“. Was dabei nicht gesagt wird: Diese ‚Fotografien‘ sind nicht nur historischer Herkunft, sondern zu einem großen Teil Screenshots aus dem gleichnamigen Spielfilm „Der Ruhm meines Vaters“, der bereits 1990 unter der Regie von Yves Robert produziert wurde. Bis ins Detail der Kostüme und des Bildaufbaus hält sich der (mäßig talentierte) Zeichner Morgann Tanco an die Bildsprache des Films, etwa auf Seite 81, wo der kleine Marcel, auf einem Felsvorsprung stehend, die beiden geschossenen Königsrebhühner triumphierend in die Höhe hält. Dieser nicht unbeträchtliche Einfluss – er wird im Nachwort glatt verschwiegen. Man fragt sich auch hier: Warum? Vielleicht passt er nicht zum Sendungsauftrag der Autoren. Man möchte ja einen abgeblassten Klassiker entstauben, und man möchte originell sein.

Zweifelhaft sind also die Motive der Autoren. Bleibt die Geschichte, die erzählt wird. Es geht, neben dem elfjährigen Alter Ego des Erzählers Marcel Pagnol, um den provinziell-biederen Grundschullehrer Joseph Pagnol. Er ist der Vater, dessen Ruhm vorgezeigt werden soll, und dieser Ruhm beginnt nicht etwa mit seinem Charakter (der, seien wir ehrlich, nicht der Rede wert ist), auch nicht mit seinem Intellekt (Joseph ist Atheist aus Mode und nicht aus philosophischer Leidenschaft), sondern mit seinem beruflichen Aufstieg zum Hauptlehrer an der größten Grundschule in Marseille. Seine Frau Augustine, die sich mit diesem Aufstieg ihrerseits brüstet, ist Schneiderin, und obwohl sich der Sohn mit ihr – warum auch immer – erklärtermaßen weit mehr identifiziert als mit dem Vater, bleibt sie im Comic ein blasses Hintergrundwesen, das nur gelegentlich etwas jammert und mäkelt, etwa wenn Marcel, angeleitet vom unermüdlichen Pädagogenvater, zu früh mit dem Lesen anfängt oder wenn dieser Pädagogenvater – ihr Ehemann – zu sehr seiner skurrilen Männerleidenschaft für antiquarische Plunder frönt.

Der überwiegende Teil des Comics aber handelt nicht von den Lebensumständen und dem wachsenden Wohlstand der Aufsteigerfamilie, sondern – von der Vogeljagd. Das ist nun leider so langweilig, wie es sich anhört, und es geht so: Die Familie Pagnol reist in den Sommerferien, der gesundheitlich angeschlagenen Mutter zuliebe, hinaus aufs Land, um dort eine Villa als Erholungsressort in Beschlag zu nehmen. Mit von der Partie ist Marcels Onkel Jules (der eigentlich Thomas heißt), ein gönnerhafter, vierschrötiger Dummschwätzer mit dicker Geldbörse, der sich noch oberlehrerhafter beträgt als der Oberlehrer selbst. Marcel und sein Bruder vertreiben sich die herrliche Ferienzeit damit, den Zikaden zu lauschen, Ameisenhügel anzuzünden und Gottesanbeterinnen zu verstümmeln, während Onkel Jules den in dieser Beziehung völlig unbeleckten Vater in die Geheimnisse des Schusswaffengebrauchs und die Gepflogenheit der Jagd einführt. Bei all der ländlichen Idylle, die da aufgerollt wird, ist es also die spezifische, aus der Langeweile geborene menschliche Grausamkeit, die gepriesen und verklärt wird. Auch der Ruhm des Vaters ist damit verbunden. Denn schließlich kommt der Tag, an dem er zur ersten Jagd aufbricht, flankiert von seinem immerzu klugscheißenden Schwager, der selbst dem wohlwollendsten Leser jetzt unerträglich wird mit seiner penetranten Kraftmeierei (für den Erzähler Marcel hingegen ist er, noch so ein Rätsel, ein „großer Freund“). Mehr durch Zufall erlegt Joseph dann per Gewehrschuss zwei stattliche Rebhühner, die ausgerechnet Marcel, der sich inzwischen in der ländlichen Einöde verlaufen hat, vor die Füße fallen. Der hebt sie auf, legt sie den beiden streitenden Jägermeistern vor – und begründet damit den sommerlichen Rebhuhnruhm seines Vaters, einen Ruhm, der auch flugs in Form zweier Rebhuhnfedern am Hut des Schützenkönigs installiert wird. Selbst der Dorfpfarrer, trotz schwarzer Robe ein fortschrittlicher Mann, darf jetzt ein Foto von Vater und Sohn im Rebhuhnglück schießen; der Jagderfolg hat offenbar auch Josephs Atheismus ein paar Federn gekostet.

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Marcel Pagnol Bd. 1: Der Ruhm meines Vaters - Das Cover

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