Der weiße Lama ist zurück, und mit ihm, so fürchtet man, der ganze esoterische Tand, der die Serie schon Anfang der 90er Jahre für die Leser und für Jodorowsky selbst unmöglich machte. Warum sich der große alte Mann des Comics dazu entschlossen hat, die Geschichte nach dreiundzwanzig Jahren weiterzuführen, bleibt ein Rätsel. Die Ausgangslage jedenfalls ist dieselbe geblieben, diesmal allerdings befinden wir uns im Jahre 1950. Die Chinesen – für Jodorowsky Inbegriff einer imperialistischen, ausbeuterischen, entzauberten Weltsicht – schicken sich an, unter dem Vorwand der Befreiung von den britischen Besatzern Tibet zu besetzen. Dieses Tibet ist für Jodorowsky Inbegriff einer allem Zweckrationalen entgegengesetzten Gegenkultur, in der man neben magischen Fähigkeiten vor allem eines hat: viel Zeit. Der Band hat denn eigentlich auch zwei Erzähltempi, einmal ein beschleunigtes im ersten Teil, wo die Gräueltaten der sogenannten „Volksbefreiungsarmee“ auf für Jodorowsky typische Weise drastisch geschildert werden, dann ein massiv entschleunigtes im zweiten Teil, wo Gabriel Marpa auf den Plan tritt und, monate- und jahrelang meditierend, schließlich die Entscheidung trifft, Tibet vor den Invasoren zu retten. Dazu inkarniert er sich in zwei Kinder, die bei der Vergewaltigung zweier Priesterinnen gezeugt und von einem Yeti-Clan in den schneebedeckten Bergen großgezogen wurden, also im Grunde genommen alle Gegensätze (Chinesen, Tibeter, Yetis) in idealer Weise verkörpern und, so ahnt man, versöhnen werden. Das ist es auch schon, was passiert.

Der erste Teil des Comics weiß durchaus zu unterhalten, freilich auf zwielichtige Art, denn die Darstellung von Vergewaltigungen und Folter als Unterhaltung zu begreifen, ist ja nicht ohne moralische Kante. Aber Jodorowsky hatte ja schon immer keine Probleme damit, aus der Faszination des Menschen für die Grausamkeiten seiner Spezies narratives Kapital zu schlagen. Wer ihn dabei gewähren lässt, dürfte an diesem Comic wenigstens zur Hälfte sein – nun ja – Vergnügen haben. Zumal auf zwei Seiten des Comics auch ein paar Männer mit Hakenkreuzbinden an den Oberarmen auftauchen (1950!), die, von einem vermummten Killer angeleitet, irgendetwas suchen und offenbar zu der skrupellosen Sorte Mensch gehören. Dass daraus nichts Gutes erwächst, versteht sich von selbst.

Der zweite Teil hingegen führt die Serie wieder zurück in die banale Langeweile der New-Age-Philosophie, die schon die letzten Bände des ersten Zyklus verdorben hat. Das macht wenig Lust, die Fortsetzung zu lesen, die für den zweiten Band „Die schönste lllusion“ vorgesehen ist. George Bess immerhin hat solide Arbeit abgeliefert, auch wenn seine Tuschezeichnungen Anno 2015 ein paar mehr Ecken und Kanten haben als noch für zwanzig Jahren.


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