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Comic-Besprechung - Habibi

Geschichten:
Habibi
Autor/Zeichner:
Craig Thompson

Story:
Die junge Dodola verbringt einen Gutteil ihrer Jugend auf einem Schiffswrack in der Wüste. Sie ist nicht alleine, sondern kümmert sich um das Kleinkind Zam, den sie ebenso wie sich selbst vor einem Leben als Sklave bewahrt hat. Ihr Schicksal wird ihr jedoch noch so manches abverlangen, ebenso wie ihrem Zam, den auch ein schweres Los erwartet. In einer Welt, in der die Gewalt gegen Frauen selbstverständlich scheint und ihr Körper allein der Befriedigung fleischlicher Lüste dient, sind es die Geschichten und Erzählungen ihrer Jugend, die ihre Hoffnung am Leben erhalten. Auf das sie eines Tages wieder zu ihrem geliebten Zam zurückfindet. Zwei verlorene Seelen auf dem steinigen Pfade zueinander, die den Unbilden des Schicksals gnadenlos ausgeliefert sind. Wird ihre Liebe füreinander allen Widrigkeiten trotzen können?


Dieser Comic wurde mit dem Splash-Hit ausgezeichnet Meinung:
Wenn man die Graphic Novel Habibi allein schon in den Händen hält, ist man ein wenig sprachlos. Ein wuchtiges Stück Graphic Novel mit goldenen Lettern und karmesinroten Verzierungen auf dunkelrotem Grund, Lesebändchen inklusive. Reprodukt hat sich hier wirklich sehr viel Mühe gegeben. Die wunderschöne Aufmachung verspricht für den Inhalt vieles und es wird jedes einzelne Versprechen eingelöst. Selten verweben sich Zeichnungen und Geschichte zu so einem fantastischen Gemisch, welches die Grenzen zwischen Comic und Kunst so deutlich aufsprengt und der Tradition des Geschichtenerzählens so sehr huldigt.

Habibi lässt sich mit den Märchen aus Tausend und einer Nacht vergleichen, mit einem modernen Einschlag. Und auch der Autor selbst gibt an hieraus geschöpft zu haben. Es beginnt mit einem Tropfen Tinte, der ward zu einem Fluss. Ein Fluss in den man als Leser nicht bloß eintaucht, sondern in den man augenblicklich hineingezwungen wird. Und man heißt es herzlich willkommen. Wenn jetzt von Märchen die Rede ist, so betrifft dies auch Aspekte, die man bei diesen gerne vergisst. Die unangenehmen Seiten, das Düstere, der schwelende Verlust am Rande der überlieferten Erzählungen. Habibi ergeht sich nicht in einem Heile-Welt-Bild. Das „und sie lebten glücklich bis an das Ende ihrer Tage“ ist ungewiss und wenn es erreicht werden soll, so ist es teuer erkauft. Geschickt versteht es Craig Thompson durch seine auf verschiedenen Erzählsträngen angesiedelte und mehrfach verknüpfte Erzählung, die nicht nur zwischen Personen sonder ebenso zwischen Zeiten springt, zu jeder Zeit einen Teil des Geschehens verhüllt zu halten und an passender Stelle den Schleier zu lüften. Die Enthüllungen packen einen dafür umso mehr und man sieht manches Mal die Kehrseite eines vermeintlichen Idylls. Ein unbeschönigtes Märchen für Erwachsene.

Der „Cartoonist“ Craig Thompson war sich sicher bewusst, dass er da etwas Besonderes am kochen hatte. Neben kleineren Sachen war Thompson erste größere Arbeit Goodbye, Chunky Rice (bisher nicht auf deutsch), bevor er mit dem autobiographisch geprägten Blankets seinen absoluten Durchbruch hatte. Nicht nur Kritiker verneigten sich vor dieser Arbeit, sondern auch Comic-Größen wie Frank Miller und Alan Moore. Obendrauf gab es dann noch jede Menge Preise und allgemeines Lob. Blankets drehte seine Kreise und erzeugte auch außerhalb der Szene Aufmerksamkeit. Entsprechendes wird sicherlich auch für Habibi gelten, wofür bereits einige Artikel in renommierten Zeitungen Beweis genug sind. Und eines machen sie vor allem deutlich, die hoch gesteckten Erwartungen nach Blankets erfüllt Craig Thompson mit vordergründiger Leichtigkeit. Ein Kunststück, welches nicht jedem so gerecht gelingen mag. Craig Thompson setzt sogar einen drauf, denn man kann durchaus behaupten, dass er mit Habibi sogar sein bisheriges Schaffen übertrifft. Dies ist nun ein Kunststück, was wirklich nur wenige schaffen. Thompson jedenfalls nimmt diese Hürde.

Vieles davon verdankt sich den immensen Bedeutungsebenen, mit denen seine Graphic Novel Habibi jongliert. Kern des Ganzen ist die Lebensgeschichte von Dodola und Zam. Dodola wird bereits als kleines Mädchen mit einem Schreiber verheiratet, der ihr die Welt der Kaligraphie und in Folge auch die Geschichten des Qur’an, von Tausend und einer Nacht sowie von anderen großen Dichtern nahe bringt. Sie wird sogar glücklich bei ihm, bis sie beide von Räubern überfallen werden. Der Schreiber wird ermordet und sie in ein ungewisses Schicksal entführt. Aber es gelingt ihr zu fliehen, zusammen mit einem kleinen Kind, einem Säugling dem sie den Namen Zam gibt. Zusammen beginnen sie ein Leben in der Wüste. Dies alles erschließt sich nicht von selbst und chronologisch. Vielmehr findet man Geschichten in Geschichten vor. Eine zukünftige Dodola erzählt über die Vergangenheit, die damit wieder zur Gegenwart des Lesers wird. So entstehen immer mehr erzählerische Schichten, die sich weiter mit mythologischen Erzählungen und Legenden vermischen, um am Ende ein einzigartiges Gewebe zu bilden. Fakt und Fiktion sind irgendwann, trotz der Kerngeschichte um Dodola und Zam, nicht mehr so klar voneinander zu unterscheiden und so befruchten sich beide Ebenen gegenseitig immer wieder.

Wer jetzt aber so etwas wie eine rührselige Gute-Nacht-Geschichte erwartet, der könnte den Inhalt von Habibi nicht weiter verfehlen. Es gibt Sex, sogar eine sehr ordentliche Portion Sex. In keinem Fall ist er allerdings wirklich einvernehmlich und entspricht irgendwelchen romantischen Vorstellungen oder Verblendungen. Mit Liebe hat er schon gar nichts zu tun. Diese ist vielmehr das Reich des Unkörperlichen und etwas, was die Hauptfiguren ersehnen, was ihnen aber nicht unbedingt auch gegeben wird. Es ist die unschöne, die Schattenseite des Liebesaktes, die in Habibi zum Teil der Erzählung gehört. Allein schon das Wort „Liebesakt“ spottet dessen, was Dodola auf den knapp 660 Seiten durchleiden muss. Sie verkauft ihren Körper, um an Essen für sich und Zam zu kommen; sie gibt sich dem Sultan hin, um nicht elendig in einem Kerkerloch zu verrecken. Von Männern wird sie ein Leben lang ausgenutzt, missbraucht, zum Spielball der Begierden zwischen den männlichen Lenden gemacht. Aber auch Zam lernt die Körperlichkeit eher von der Kehrseite kennen. Sein in der Pubertät mitwachsender Trieb, das erste sexuelle Verlangen, wird für ihn zur Geissel. Etwas Fremdartiges, Unsauberes, was ihn mit Schuldgefühlen und Scham belädt. So radikal, wie sich sein im Grunde normales Verlangen nach oben drängen will, so radikal werden die Methoden Zams, um  diesem Emporkochen zu entgehen. Der geschlechtliche Verkehr hat für die Hauptprotagonisten bloß Leid zur Folge und hinterlässt tiefe seelische Wunden.

Wie ein Rettungsanker für das Seelenheil wirken dagegen die Geschichten, die die Figuren wie Engel in Gestalt von Worten umkreisen. Sie bilden die Brücke zu einem anderen Verständnis der Welt, schenken Trost, machen Mut, lindern die seelische Not, lassen träumen. Von einem besseren Leben, einer schöneren Zeit, die im wahren Leben auf sich warten lässt. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, von Luft und (fleischlicher) Liebe schon gar nicht. Religion, Mythen, Märchen und Legenden lassen etwas im Menschen erklingen, was am Urgrund dessen rührt, was man als Mensch-Sein bezeichnen könnte. Etwas tief in uns verwurzeltes horcht auf, wenn Habibi seinen Bogen spannt und all dies zu umfassen versucht. Craig Thompson gelingt es genau an diesen Kern anzustoßen, das Erbe unserer Menschlichkeit und der Generationen, die vor uns kamen. In gewisser Weise macht das seine Geschichte universell und vermutlich auch unsterblich, da sie sich in den Kanon des Überlieferten einreiht und sogar etwas hinzufügt. Man bekommt beim Lesen unweigerlich das Gefühl, für manche Geschichten reichten Wörter nicht aus, sie können einfach nur in Bildern erzählt werden.

Der Konflikt des Geistigen mit dem Körperlichen ist in Habibi immanent. Und wie so viele Religionen und Philosophien es auch bezeugen, wahre Erlösung, echten Frieden und Seeligkeit findet man eben nur über ersteres. Eine schlichte Erkenntnis, die eines langen und beschwerlichen Weges bedarf, um sie im echten Leben in die Tat umzusetzen. Die wenigsten erreichen dies zu Lebzeiten, und selbst jene anderen haben oft einen Pfad voller Opfer, Leiden und Entbehrungen hinter sich, bevor sie endlich so etwas wie Frieden erfahren können.So wie auch Dodola und Zam.

Einen ersten Vorgeschmack auf die Impressionen, die Habibi geprägt haben, bot der etwa 2005 ebenfalls von Reprodukt veröffentlichte Comic Tagebuch einer Reise. Dort hielt Craig Thompson die Eindrücke fest, die er während einer drei-monatigen Reise durch Europa und Marokko machte. Anlass war zum einen eine Signiertour durch die „alte Welt“, als auch Recherchen zu seinem kommenden Werk, welches jetzt mit dem Titel Habibi vorliegt.

Craig Thompson geht mit größter Ehrfurcht und Respekt an sein Thema heran. Es ist eine große Verbeugung vor der Kunst der Kaligraphie und den Meistern orientalischer/islamischer Muster und Ornamente. Der Reichtum dieser Künste trug in der islamischen Kultur prächtige Früchte. Aufgrund des Darstellungsverbots des Menschen und vor allem Gottes und seines Propheten konzentrierte man sich auf Ornamente und Kaligraphie. Die wunderbare Mannigfaltigkeit dieser Herangehensweise wird in Habibi von Craig Thompson voll ausgeschöpft. Komplexe Ornamente und wunderschöne Verzierungen allerorten und selbst Worte werden zu fantastische Kunstwerken. „Im Namen Gottes des Barmherzigen und Gnädigen“ für das westliche Auge bloß Worte, in den Augen der muslimischen Künstler der Beginn jeder Sure und ein Abbild schöpferischer Kraft, im wahrsten Sinne des Wortes. Liebe und Herzblut des Zeichners scheint aus jeder Seite. Eine enorme Hingabe beweist Craig Thompson mit seinem neuesten „Kunst“-Werk. Es gelingt ihm so viele Eindrücke auf den Leser einprasseln zu lassen, dass es die Sinne betäubt. Kein Wunder das die Graphic Novel Jahre brauchte, um fertig gestellt zu werden.

Wenn auch viele Unwägbarkeiten den Lebensweg jedes einzelnen prägen. Eines scheint jedoch jetzt bereits sicher, die nächsten Auszeichnungen für Craig Thompson warten schon!!! Auch wenn die Vielschichtigkeit und die Herangehensweise an die Erzählung auch in anderer Weise gedeutet werden kann und nicht jedem zupass kommt.


Fazit:
Ein Meisterwerk der Comickunst und eine Graphic Novel, die diesen Namen auch verdient. Vielleicht ist sogar eine neue Bezeichnung nötig: illustrierte Kunst. Craig Thompson hat ein einzigartiges Kleinod geschaffen, welches den aktuellen Höhepunkt seiner Karriere darstellt. Selten verquickten sich Kunst und Comic auf so formidable Weise. Wer nicht sprachlos ist, den erschlagen die graphischen Eindrücke. Diese Graphic Novel wird man auch in zwanzig Jahren nicht vergessen haben.


Habibi - Klickt hier für die große Abbildung zur Rezension

Habibi

Autor der Besprechung:
Alexander Smolan

Verlag:
Reprodukt

Preis:
€ 39,00

ISBN 13:
978-3-941099-50-0

672 Seiten

Bewertungen unserer Redaktion und unserer Leser

Positiv aufgefallen
  • ein Werk, welches ob seiner erzählerischen und graphischen Opulenz sprachlos macht
  • Craig Thompson erklimmt nach Blankets die nächste Stufe
  • eine einzigartige Verbindung von Comic und Kunst
  • wundervolle Aufmachung von Reprodukt
  • nahezu ein Jahrhundertwerk
Negativ aufgefallen
Die Bewertung unserer Leser für diesen Comic
Bewertung:
1
(5 Stimmen)
Bewertung
Du kannst diesen Comic hier benoten.

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Rezension vom: 08.10.2011
Kategorie: Alben
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