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Im Büro bei Stan Lee
Im Büro bei Stan Lee
Erblicken wir da vielleicht ein Wetterleuchten am Horizont? Wird die «X-MEN»-Verfilmung am Ende einen neuen Boom an Superheldencomics entfesseln? Kann das Genre an Hollywood genesen, ähnlich wie die Batman-Adaptionen Ende der Achtziger eine furiose, wenn auch nicht besonders nachhaltige Verkaufswelle auslösten? Ich stelle meine Frage dem Mann, der es wissen muss, weil er alles weiss, was sich in dieser Branche getan hat in den letzten fünfzig Jahren, die er ja wie kaum ein Zweiter beeinflusst, revolutioniert und an vorderster Front geprägt hat. Ich treffe mein altes Idol Stan Lee mit trockener Kehle an einem drückenden Julinachmittag am Ventura Boulevard von Encino in Los Angeles. Wir haben uns für ein ausführliches Gespräch über die Zukunft des Superheldencomics verabredet, dem Lee noch einmal - er ist jetzt 78 Jahre alt - einen entscheidenden Impuls vermitteln will. Zu diesem Zweck hat er sich vor anderthalb Jahren mit einer Reihe hochrangiger Hollywood-Magnaten zusammengetan, um Stan-Lee-Media zu gründen, eine Inteilletfirma, die auf der Basis von animierten Bildergeschichten ein umfassendes Unterhaltungsangebot aufbauen will.

Das Projekt ist im Grunde nur möglich geworden, weil Lees alter Arbeitgeber Marvel vor drei Jahren bankrott ging und den Ehrenchairman auf Lebenszeit aus dem Vertrag entlassen konnte. Eine desaströse Expansionspolitik hatte den Comickonzern in den Ruin getrieben, nachdem Mitte der Neunzigerjahre der US-Markt für Superheldencomics über Nacht um mehr als fünfzig Prozent geschrumpft war. Heute ist Marvel zwar auf Konsolidierungskurs und Lee mit einem lo-Prozent-Pensum wieder dabei. Die Aussichten der Branche allerdings sehen weiterhin trübe aus, denn die Verkaufszahlen deuten auf eine sich nochmals verringernde Nachfrage hin.

Was also lief falsch?

Unser Gespräch beginnt mit einem Seufzer. Stan Lee, der Erzähler, schweigt zunächst. Dann runzelt er die Stirn. Es sei schon so, sagt der hellwache Greis, der mich im offenen Hemd mit Jeans empfängt, dass das Erzählhandwerk verludert sei. Er selber lese kaum mehr Hefte, verstehe sie nicht, habe keine Zeit dafür, und auch wenn er sie hätte, würde er sie lieber vor dem Fernseher verbringen. Er schwärmt von den Kämpen Kirby und Steve Ditko, der die ersten «Spider-Man»-Geschichten zeichnete, er beschwört die alten Zeiten, als sie sich beim Autofahren ausdachten, welche Sternensysteme der Erzbösewicht Galactus auf dem Weg zur Erde wohl verschlingen sollte.

Zwischendurch rezitiert Lee freihändig ein Gedicht eines persischen Lyrikers, dann wieder erläutert er mir die Faszination, die der Sound der Bibel auf ihn ausgeübt habe, als er nach Möglichkeiten forschte, die Dialoge eines nordischen Gottes wie Thor realistisch hinzubekommen. Es sei nie sein Ziel gewesen, fährt Stan fort, die Kids zu Shakespeare zu erziehen, auch wenn er den Königsdramen tatsächlich manche Inspiration entnommen habe. Seine Superschurken modellierte er nach dem Horrorschriftsteller HP Lovecraft, wie er überhaupt sehr viel gelesen habe damals, alles durcheinander, Western, Comics, Proust, Sciencefiction, die «New York Times». Er ist stolz darauf, dass der Hollywood-Regisseur George Lucas seinen «Star Wars»-Film entlang von Marvel-Figuren entwickelt habe, wenn auch ohne Quellenangabe. «Macht nichts», sagt Lee und weist nach, dass sich Darth Vader und Dr. Victor von Doom, der in eine Metallrüstung eingepackte Gegenspieler der «Fantastischen Vier», eigentlich aufs Haar gleichen.


Special vom: 04.03.2001
Autor dieses Specials: Roger Köppel (Text) und Vera Hartmann (Fotos)
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Kannibalistische Rituale
Und dann kam Spider-Man
Einsamkeit und Depressionen
Empathische Rüsselmenschen
Stan - The Man - Lee
Batman durch den Schredder
Ich habe es einfach ausgespuckt
Drei Gründe für den Niedergang
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