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VROOOAAAR oder über Freud und Leid eines Comic-Übersetzers

VROOOAAAR

Seit Mitte des Jahres 2006 habe ich mittlerweile 26 Bände plus einige Kurzgeschichten der Serie Michel Vaillant für die ZACK Edition übersetzt. Ein Job, der viel Spaß bereitet, der aber auch immer wieder überraschende Erkenntnisse mit sich bringt. Und zwar dann, wenn ich meine Übersetzung des Jean-Graton-Albums mit den frühen Textfassungen vergleiche, die in den Koralle-Ausgaben der Jahre 1978 bis 1981 zu finden sind. Die sind zwar nie hundertprozentig falsch, mitunter gedanklich und sprachlich aber doch so abwegig, dass man ein verzagtes „Himmel, ich könnte heulen!“ anstimmen möchte.

01._Blatt_38_Bild_2Zu diesem ernüchternden Fazit (siehe Abbildung 1) kommt übrigens auch ein Mitarbeiter von Vaillante in der 1978er-Version von
Der Weltmeister, und zwar in Panel 2 auf dem vom Künstler mit der Ziffer 38 gekennzeichneten Blatt. In der Originalausgabe sucht der Leser diesen Spruch freilich vergeblich. Da konzentriert sich der Boxenhelfer auf seine eigentliche Aufgabe, einen Reifenwechsel. Und zwar: „Hinten rechts!“ Tja, werden jetzt einige sagen, im Koralle-Abenteuer erwischt es unseren Michel Vaillant auch ungleich heftiger. „Beim Überrunden eines Nachzüglers streift ihn dieser, und die Lenkung des Vaillante wird beschädigt.“ Nur, wo hat der Übersetzer diese Information her? Da hat wohl im Übermut einer offensichtlichen Formel-1-Glückseligkeit die pure Fantasie zugeschlagen. Jean Graton nämlich lässt seinen Helden wegen eines defekten Reifens die Box aufsuchen.

Derlei Beispiele finden sich in Der Weltmeister zuhauf. Bei nüchterner Betrachtung steht im Grunde in kaum einer der Sprechblasen das, was der Autor im Original da hinein geschrieben hat. Einerseits sind viele subtile Informationen getilgt, etwa die angedeuteten Ängste von Françoise um ihren Rennen fahrenden Ehemann Michel, andererseits wurden unzählige einfältige Hinweise oder beschränkte Dialoge hinzugedichtet. Ein Paradebeispiel in dieser Hinsicht ist das Tischgespräch in der Jonquière, dem Wohnsitz von Henri und Elisabeth Vaillant.
Mutter Vaillante: „Muss ich Herrn Weltmeister jetzt mit ‚Sie‘ anreden?
Françoise Vaillant: „Ob mit oder ohne Weltmeistertitel – Michel ist und bleibt ein Mann, zu dem jeder gern ‚Du‘ sagt! Woran mag das nur liegen? Vielleicht weil ihm sein geliebter Sport wichtiger ist als jeder Sieg …“
Mutter Vaillant: „Hör gut zu, mein Sohn! Deine Frau himmelt dich ja richtig an …“
Michel Vaillant: Ich bin ja auch der Nettesten einer – oder stimmt das etwa nicht?“
Falls ein Leser oder ein Kritiker derlei moralisierende Nichtigkeiten bislang dem armen Jean Graton in die Schuhe geschoben haben sollte, muss er sich eines Besseren belehren lassen und Abbitte leisten. An dieser Stelle wurde nicht wörtlich übersetzt, sondern – milde ausgedrückt – höchst diffus interpretiert. Was also steht nun tatsächlich an dieser Stelle in den vier Sprechblasen? Ein Blick auf die Seite 47 in der Neuausgabe des Albums, das nun kurz und knackig Weltmeister heißt, präsentiert die Lösung.

02._Der_Weltmeister_Cover 04._Gnadenloser_Test_Cover
Geradezu grotesk wird es, wenn mangels besseren Verständnisses reiner Nonsens in die Welt gesetzt wird.
Einen Höhepunkt in dieser Hinsicht bot das 1977 veröffentlichte Album Gnadenloser Test (Band 26 in der ZACK Box) im letzten Panel auf Seite 27 sowie in Panel 1 und 2 auf Seite 28. Da kommen die Vaillante-Mechaniker, denen der Knast droht, „dank der Hilfe der hübschen Carol“ wieder frei. Während der Übersetzer bei dieser oder Über Freud und Leid eines Comic-Übersetzers bei dieser Aktion weiblichen Charme im Spiel wähnte, setzt Jean Graton im Original auf die harte Dollar-Kaution eines gewissen Carroll Shelby, der sogar im Bild gezeigt ist. Der Mann ist 1923 in Texas geboren und machte in seiner aktiven Karriere nicht nur als Konstrukteur sondern auch als Rennfahrer von sich reden. Sein größter Erfolg war ein Sieg bei den 24 Stunden von Le Mans im Jahr 1959. 34 Jahre später ist dieser Fauxpas, neben einigen ande-ren, im neu übersetz-ten und geletterten Band, der nun unter seinem Originaltitel Schlacht um einen Motor erschienen ist, endlich ausgemerzt.

Nichts Besseres gibt es über das Album 23.000 Kilometer durch die Hölle zu berichten, das 1975 erschienen ist. Da wurde über eine Rallye geredet, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. In seinem Nachwort zur Neuauflage dieses Abenteuers unter dem Originaltitel Rush fragt ein verdutzter Gerhard Förster folgerichtig: „Wo bleibt die Carrera Panamericana?“ Zudem strotzte auch diese Story, die es einst als Band 16 in der ZACK Box gab, von Übertragungsfehlern.
Augenfälligstes Beispiel dafür mag die Szene sein, in der die Leader den mexikanischen Konkurrenten Ricardo Perez verletzen. Während die Koralle-Fassung vorgibt, dass er „niedergeschossen“ wurde, wird ihm in Wahrheit die linke Hand am glühend heißen Auspuffrohr verbrannt. Obwohl diese Begebenheit sogar im Bild gezeigt ist, wurde sie nicht erkannt. Was einmal mehr beweist, dass das Lesen und Verstehen von Comics gar nicht so einfach ist. Nebenbei bemerkt: Jean Graton hat diese Darstellung als die „sadistischste“ im Gesamtwerk von Michel Vaillant bezeichnet.
„Ich habe lange gezögert, ob ich diese grausame Szene zeigen soll. In meinen Geschichten gibt es genügend mechanische Gewalt, da muss man das nicht noch weiter treiben.“

Wie bereits erwähnt, geht es in der Erstausgabe des Albums Der Weltmeister ähnlich dreist zu. Einfach unbegreiflich, dass die von Jean-Pierre Vaillant in Bild 2 auf Blatt 40 angedeutete Teamorder (ein 2. Platz hinter Ickx und vor Warson würde Michel zum Weltmeister machen) genau andersrum ausgelegt wird: „Signalisiert Steve, er soll alles auf eine Karte setzen!“ Und wie reagiert Vater Henri Vaillant? Er lehnt dies ab, „weil wir auch an die Männer denken [müssen], die bei diesem Teufelswetter Kopf und Kragen riskieren…“.
Da wird die Logik eines Plots schlicht auf den Kopf gestellt zugunsten einer anderen, verquer gehenden Sicht der Ereignisse. Im Original streiten die beiden um den moralischen Aspekt einer Stallregie, deren Für und Wider auch im wahren Automobilsport-Zirkus bis heute immer wieder kontrovers diskutiert wird.

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Special vom: 02.08.2011
Autor dieses Specials: Horst Berner
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Editorial von Georg F.W. Tempel
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