Optionen und weiterführende Links



In der Datenbank befinden sich derzeit 477 Specials. Alle Specials anzeigen...

Henning mag Süßschnäbel mit Hirschohren
An die Verwendung von Superlativen in der Werbung hat man sich ja schon länger gewohnt. Das Waschmittel wäscht weißer als weiß, jeder neue Fantasy-Autor, der im halbwegs passenden Stil schreibt, ist "der neue Tolkien". Und hält eine Comicserie länger als ein paar Jahre durch, deklariert sie bestimmt irgendwo jemand zu "dem Klassiker" des jeweiligen Genres. Entsprechend skeptisch war ich also, als ich zum ersten Mal auf die Serie stieß, um die es hier gehen soll. Die Story sei "brilliant", der Autor "ein Genie", die Serie insgesamt "most excellent" und so weiter und so fort.

SWEETTOOTH1AUSDEMTIEFENWALD_844Aber ein näherer Blick zeigt, dass wir es hier offenbar tatsächlich mit einem der seltenen Fälle zu tun haben, in denen die reichlich verteilten Lorbeeren vollauf berechtigt sind. Jeff Lemires Sweet Tooth scheint richtig, richtig gut zu sein. Die Serie erscheint im amerikanischen Original beim DC-Label Vertigo und hat es inzwischen auf 32 Hefte beziehungsweise vier Sammelbände (Trade Paperbacks) gebracht. Darin schildert Lemire eine Post-Doomsday-Geschichte. Der größte Teil der Menschheit ist einer Seuche zum Opfer gefallen. Seither werden außerdem Kinder als Chimären geboren, als Mischwesen zwischen Mensch und Tier. Sie werden von den Überlebenden erbarmungslos gejagt. Der junge Gus ist ein solcher Hybrid, eine Kreuzung zwischen Mensch und Hirsch. Bisher hat er sich im Wald vor der Welt verborgen, aber eines Tages gerät er an eine Gruppe brutaler Jäger. Der nicht minder brutale Jepperd rettet ihn und erzählt Gus von einem sagenumwobenen Reservat, in dem Kinder wie er in Frieden leben können. Aber ist Jepperd wirklich ein selbstloser Wohltäter, oder verfolgt er einen ganz eigenen Plan?

Schon frühere Werke von Jeff Lemire konnten Preise abräumen, vom selbstverlegten Debut "Lost Dogs" (Xeric Award 2005) über Nominierungen für einen Ignatz, einen Harvey und zwei Eisner Awards bis zur Vorauswahl für "The Essential Canadian Novels of the Decade" für "Essex County" im vergangenen Jahr. Bei letztgenanntem Wettbewerb des kanadischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens schied Lemires Band zwar als erster aus, konnte dann jedoch die Publikumsabstimmung gewinnen – mit mehr Stimmen als alle anderen Kandidaten zusammen.

Lemires Figuren sind nicht realistisch gezeichnet, fast schon karikaturhaft. Das erleichtert es, Emotionen zu vermitteln. Und tatsächlich schließt man Gus praktisch schon mit dem Titelbild ins Herz, wo er – verzeiht mir den flachen Spruch – wie ein Hirsch im Scheinwerferlicht hilflos den Leser anblickt. Man will einfach nicht, dass dem armen Kerlchen etwas zustößt – und in seiner Welt gibt es mehr als genug Dinge, die ihm zustoßen könnten. Beispielseiten in Blogs, bei Rezensionen oder Interviews zeigen, dass der Künstler auch im Erzählen großes Talent beweist. Seine Charaktere müssen nicht viele Worte machen, in einigen Fällen sagt alleine die Perspektive oder deren Wechsel schon alles. Die Farbgebung ist unaufdringlich, aber eindrucksvoll, mit gelegentlichen Ausflügen ins Wahnhafte oder Psychodelische (siehe etwa das Cover des US-Hefts 21, auf dem sich Gus im Maul eines gigantischen, gelb-rot-schwarz glühenden Bären wiederfindet). Insgesamt macht "Sweet Tooth" einen sehr, sehr vielversprechenden Eindruck, und 14,95 Euro des diesmonatlichen Budgets sind damit festgelegt.

Bleiben 10,05 Euro und ein Problem. Denn diejenigen Comics unter denen, die im Mai erscheinen, die ich dafür noch bekommen würde, überzeugen mich nicht völlig. Die Manga-Umsetzung von Summer Wars oder auch Vinland Saga, alles nicht verkehrt, aber dafür auf das Mittagessen verzichten? So gut auch wieder nicht. Und die Comics, die dafür in Frage kommen würden, liegen preislich zu hoch, wie der zweite "Träume"-Band oder die Umsetzung von Robert Jordans Rad der Zeit. Also entscheide ich mich für den Restbetrag für das Futtern, sprich, dafür gibt es Lebensmittel. Vielleicht ja Süßigkeiten. Das würde nicht nur dem Titelhelden Gus aus "Sweet Tooth" (übersetzt etwa "Süßschnabel") gefallen, sondern auch mir.

Ach ja, wer ganz unverbindlich in "Sweet Tooth" hineinschnuppern will, hat dazu am 12. Mai Gelegenheit. Dann ist nämlich der diesjährige Gratis-Comic-Tag, und Jeff Lemires Comic ist eines der eigens dafür produzierten 30 Hefte, die man sich an diesem Tag kostenlos in vielen Comicläden mitnehmen kann. Mehr Informationen darüber gibt es auf www.gratiscomictag.de.
«  ZurückIndexWeiter  »


Special vom: 01.05.2012
Autor dieses Specials: Henning Kockerbeck
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Rückblick auf April von Marcus Koppers
Carsten schwankt zwischen Fantasy und Wahnsinn
Marcus will Vampire, die nicht in der Sonne glitzern und freut sich auf den Gratis Comic Tag
Martin tummelt sich im Heftedschungel
Zurück zur Hauptseite des Specials


?>