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Mit Maske und Falke - historische Sittengemälde in den Zyklen des Roten Falken
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Patrick_CothiasFrankreich, 17. Jahrhundert: Der Bruder des Königs, Herzog von Orleans, sucht mit skrupellosen Gleichgesinnten ein katholisches Heim für geistig kranke Frauen auf. Gegen Bezahlung „vergnügt“ er sich mit den wehrlosen Insassinnen. Eine der geistig Kranken leistet jedoch Widerstand, indem sie ihrem Peiniger die Nase abbeißt. Es handelt sich um Ariane de Troïl, die kurz zuvor nur knapp dem Tod entkam.
Die Szene stammt aus der Historienserie Plume aux vent (dt. Wie eine Feder im Wind). Sie steht symptomatisch für die durchsetzungsstarke Heldin. Szenarist Patrick Cothias hat mit der Heldin Ariane de Troïl zweifelsohne eine starke Frauenfigur geschaffen, die im Zentrum seiner zahlreichen Zyklen um den Roten Falken steht. Der Name des selbsternannten Rächers für das Gute stammt von dessen Begleiter: einem Greifvogel. Doch strenggenommen ist der Name Roter Falke falsch. Denn der dargestellte Greifvogel ist ein Sperber. Und das macht einen entscheidenden Unterschied, weil das Sperberweibchen dominanter als das Männchen ist. In einigen Geschichten verbirgt sich hinter der Maske Ariane, also eine Frau. Doch trotz dieses Missverständnisses haben sich die Abenteuer des Maskierten von einst Abenteuerserien für Jugendliche zu spannenden Historiencomics für Erwachsene weiterentwickelt. Zu den Höhepunkten zählt neben dem Klassiker Les 7 vies de l’Épervier (dt. Die 7 Leben des Falken) auch Plume aux vent.

Der „Prolog“: Masquerouge

Zum Entstehungshintergrund ist entscheidend zu wissen, dass sich Cothias und André Juillard 1980 in der Redaktion des Jugendmagazins Pif Gadget kennenlernten. Diese Begegnung führte noch in demselben Jahr dazu, dass sie ihre historisierende Abenteuerserie Masquerouge (dt. Der Rote Falke) realisierten. Cothias verfasste das Skript für Pif schon ab 1978, hatte aber seinerzeit keinen geeigneten Zeichner in Aussicht. Mit Juillard traf er schließlich den entsprechenden „Bruder im Geiste“, denn beide pflegten eine Vorliebe für historische Stoffe.
Es folgten 16 Episoden von Masquerouge, die gewissermaßen als „Prolog“ für alle weiteren Zyklen betrachtet werden können. Die letzte Geschichte La marque de Condor (Pif Gadget #670) wurde übrigens nie in der Albumpublikation nachgedruckt.
Die mehr oder weniger zusammenhängenden Episoden spielen im Frankreich von 1624. Das Volk leidet unter Mangel und Armut, während der Adel frohlockt. Die Baronin Ariane de Troïl kämpft mit Degen, Pferd und Maske für mehr soziale Gerechtigkeit. Sie stellt sich gegen die dekadente Obrigkeit, der sie selbst angehört. Mit der „Sekte der Spinne“ erhält die Baronin beispielsweise einen gefährlichen Gegner, der seine Mitglieder aus der Elite rekrutiert. Die fanatische Untergrundgruppe will mit Gewalt das alte Feudalsystem wieder herstellen.
Es liegt auf der Hand, wo Cothias seine Idee für den Roten Falken hergenommen hatte: Zorro und Die Drei Musketiere standen zweifelsohne Pate Andr___Juillardbei Masquerouge. Die Episoden besitzen einen hohen Unterhaltungswert, was vor allem auf die knackigen Dialoge und den schelmischen Humor zurückzuführen ist. Ein Running-Gag besteht zum Beispiel darin, dass Arianes Leibwächter Germaine Grandpin, ein Meister der Fechtkunst, stets ein Schritt hinter seinem Schützling hinterherläuft und nichts von Arianes Geheimidentität ahnt.
Dennoch stellen diese Episoden von Masquerouge noch kein Meisterwerk dar. Die Kurzgeschichten zählen allenfalls zu den Klassikern des Jugendcomics. Vor allem die Nebenfiguren wirken holzschnittartig, und insgesamt steht das Abenteuer zu sehr im Vordergrund. Die historischen Ereignisse werden lediglich als Kulisse verwendet. Künstlerisch machte der Zeichner Juillard jedoch einen entscheidenden Sprung in seiner Entwicklung, indem er sich stilistisch von seinen Vorbildern zu lösen begann. Das historische Ambiente wirkt bereits in Masquerouge überzeugend: Die Pariser Straßen sind voll von Fachwerkhäusern, deren matte Farben mit der etwas grell kolorierten Kleidung kontrastieren. Die Panels wirken trotz einer strengen Anordnung insgesamt noch sehr „expressiv“ oder negativ formuliert „überladen“.

Das Meisterwerk: Les 7 vies de l’Épervier
Noch während Cothias und Juillard an Masquerouge arbeiteten, spielten sie mit dem Gedanken, eine erwachsene Version ihres Roten Falken zu realisieren. 1982 schritten sie zur Tat: die letzte Episode von Masquerouge wurde gerade abgedruckt, und schon legten sie mit den ersten Folgen ihres Meisterwerks Les 7 vies de l’Épervier für das Comicmagazin Circus nach.
Darin wird die episch angelegte tragische (Vor-)Geschichte der Adelsfamilie Troïl erzählt. Der erste Band beginnt im Frankreich von 1601 mit den parallel verlaufenden Geburten von Ariane de Troïl und Ludwig XIII, Sohn des vergnügungssüchtigen Königs Heinrich IV. Im Laufe der Serie wachsen die beiden heran, die eine Schwäche für den Roten Falken (der Ritter Condor) teilen. Der siebte Band beschließt das Historien-Epos im Jahr 1625, in dem Ariane selbst zum Roten Falken wird. Dadurch schließt sich der Kreis zu Masquerouge.
Cothias und Juillard verlassen das Abenteuergenre für ein jugendliches Publikum und ergänzen ihre bisherigen Zutaten nicht nur um Darstellungen von Gewalt und Sex, sondern auch um interessante Charakterstudien, historisch verbürgte Ereignisse und Personen sowie um einen Hauch von Mystery. Durch zuletzt genannte Erweiterung entwerfen die beiden einen interessanten wie spannenden Drahtseilakt zwischen historischer Revue und einer „Meta-Ebene“: der mysteriöse Künstler Leonhard Flinkzunge und eine wahrsagende Hexe erscheinen den Protagonisten immer wieder als magische „Drahtzieher“. Diese stehen im Dienste des Teufels und agieren hinter der historischen Kulisse. Das lässt sich als Parallele zum Faustschen Pakt aus Goethes Klassiker deuten, was in den weiteren Zyklen bekräftigt wird: wenn es beispielsweise darum geht, dass die Vertreter des Rote Falken über den Verlust ihrer Seelen klagen (siehe Plume aux vent).
Juillards aufwändig recherchierten Zeichnungen beeindrucken nun durch einen klaren und kühlen Strich: egal ob Kostüme, Interieur oder Architektur – die vergangene Epoche wirkt sehr glaubhaft, ohne den Leser mit einer unnötigen Detailverliebtheit zu überfordern. Landschaften und Figuren erhalten durch Juillards individuellen Strich ihren eigenen Reiz. Die kühle Eleganz seiner Zeichnungen entspricht vor allem Arianes Charakter und wirkt auch in Kampfszenen sehr beeindruckend. Die gewisse Sprödigkeit, die durch eine strenge Panelarchitektur unterstützt wird, sorgt für „aufgeräumte“ Bilder.

Fortsetzungen und Spin-Offs
Nach dem Erfolg von Les 7 vies de l’Épervier beschritten Cothias und Juillard zunächst wieder getrennte Wege. Während der Zeichner neue Herausforderung suchte und sich auch durch Solo-Projekte bewährte, zeigte sich Cothias weiterhin vom Roten Falken „besessen“. Für ihn war noch lange nicht das letzte Kapitel über das schicksalshafte Leben von Ariane geschrieben worden. Nahtlos ging er über, die Masquerouge-Serie fortzusetzen.
Die Serie knüpft zunächst an die ersten drei Bänden an, wodurch erneut mehr „abenteuerliche“ Alben entstanden. Erst ab dem siebten Band inszeniert Cothias ein spannendes historisches Sittengemälde mit höfischen Intrigen und Machtspielen.
Inhaltlich geht es um das Verhältnis zwischen Ariane und König Ludwig XIII, die sich näherkommen, obwohl der König für seine homosexuellen Vorzüge bekannt ist.
Das erklärt Cothias damit, dass sich der König von Arianes „Knabenhaftigkeit“ angezogen fühlt. Marco Venanzis Stil kann sich mit Juillards Kunst nicht messen: ihm fehlt die filigrane Eleganz. Seine Zeichnungen wirken gröber und auf eine gewisse Wiese unruhiger. Doch auch Venanzi hat fleißig recherchiert, wodurch auch seine Illustrationen in Punkto geschichtlicher Rahmen einen authentischen Eindruck hinterlassen.

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Special vom: 25.03.2013
Autor dieses Specials: Marco Behringer
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Editorial von Georg F.W.Tempel
Der unzufriedene Perfektionist - Interview mit Bas Heyman
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