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Ein Blick auf beängstigende Städte
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schuitenAls am 1. Dezember 2015 die Universität von Lancaster erstmals eine Professur für grafische Fiktion und Comic-Kunst vergibt, ist das Erstaunen groß. Dass der Lehrstuhl hingegen an den Franzosen Benoît Peeters vergeben wird, verwundert die Comicbranche nicht. Zu groß ist sein Renommee in der 9. Kunst: einerseits als Biograph von Hergé und andererseits auch als Autor eigener Serien.
Vor allem letzteres hat sich allerdings noch nicht unter deutschen Journalisten herumgesprochen. In der Süddeutschen Zeitung heißt es anlässlich seiner Berufung: „Comics sind eines seiner Lebensthemen, und das heißt nicht, dass er sich nicht auch mit schwereren Stoffen beschäftigen würde. Vor fünf Jahren veröffentlichte er eine hochgelobte Biografie des Philosophen Jacques Derrida.“ Diese Bemerkung wird bei jedem Leser, der sich die Mühe macht, Peeters herausragende Serie zu entdecken, nur für Kopfschütteln sorgen. Denn gemeinsam mit dem Belgier François Schuiten schuf er mit Die geheimnisvollen Städte nicht bloß eine geniale Serie, sondern lieferte eine komplette Welt ab. Eine Welt, die in sich schlüssig ist, hoch komplex und in ihrer Stringenz die Vergleiche mit J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe oder Frank Herberts Wüstenplanet nicht scheuen muss.

schuiten_auszugIm deutschsprachigen Raum wird die Serie mittlerweile bei Schreiber&Leser aus München vertrieben. Zehn Bände liegen derzeit vor.
Da bei erscheinen sowohl neues Material wie etwa die auf zwei Bände angelegte Geschichte Nach Paris zum Druck als auch Neuauflagen älterer Erzählungen wie Der Turm, die vor Jahren zuerst im Reiner­ Feest­ Verlag und dann in der Ehapa Comic Collection erschienen sind.
Auf die Frage, ob auch die anderen älteren, längst vergriffenen Bände, beispielsweise Das Stadtecho - Die Geschichte einer Zeitung oder Führer durch die Geheimnisvollen Städte, neu aufgelegt werden, hat Rossi Schreiber, Verleger von Peeters und Schuiten, eine klare Antwort: „Mit der Produktion der fehlenden Titel sind wir auf den Lizenzgeber angewiesen. Casterman legt seit ein paar Jahren eine Neuedition mit neuem Layout und Bonusmaterial auf, wir müssen immer warten, bis sie den nächsten Titel angehen.“

Der imaginäre Bau der geheimnisvollen Städte begann 1983 mit dem Band Les murailles de Samaris (dt.: Die Mauern von Samaris, Schreiber&Leser). Bereits zwei Jahre darauf folgte der nächste Schritt in das Universum: 1985 erschien bei Casterman La fièvre d‘Urbicande (dt.: Fieber in Urbicand, Schreiber&Leser). Beiden Bänden war die Faszination für die große Architektur anzusehen. In Die Mauern von Samaris geht es um eine Stadt, die nichts weiter als Schein und Fassade ist. Schuiten, selbst Spross einer Architektenfamilie, der U­ Bahn­ Stationen in Paris und Brüssel gestaltet hat, zelebriert die Geschichte von Peeters in großformatigen Bildern. Seine Liebe zur Architektur kommt noch etwas mehr in Fieber in Urbicand zum Vorschein. Ein seltsames Gebilde in Würfelform wächst ins Unermessliche. Es lässt sich nicht zerstören, nicht verrücken und erobert die Welt der geheimnisvollen Städte.
schuiten_auszug_2In beiden Bänden wird eine literarische Gattung zelebriert, die bis dato noch gar keinen eigenen Namen hat: „Schuiten und Peeters waren mit dem Universum der Geheimnisvollen Städte die ersten in Comicland mit literarischem Steampunk, noch bevor der Begriff selbst Karriere machte“, erläutert Schreiber. Die beiden Comickünstler entwickelten einen Retrostil, der sich auf das viktorianische Zeitalter bezog, aber in eine namenlose Zukunft transportiert wird. Stilmittel der Comics sind neben einer verschnörkelten Innenarchitektur und spielerisch gestalteten Fassaden eine dampf­ und zahnradgetriebene Mechanik sowie ein viktorianischer Kleidungsstil.

Die Architektur der geheimnisvollen Städte hat stets etwas Bedrohliches und Unheimliches – nichts ist leicht und lebensfroh. Im ersten Band erweist sich die schöne Stadt als bloße Fassade ohne Inhalt. Dann folgt das monströse Objekt in Fieber in Urbicand. Im dritten Teil der Sage von 1987, La Tour (dt.: Der Turm, Schreiber&Leser) befindet sich ein riesiger Turm in Auslösung. In L‘ombre d‘un homme (dt. Licht und Schatten, Schreiber&Leser), sieht sich ein Mann mit einem farbigen Schatten konfrontiert.
Aber auch in anderen Comics von Schuiten liegt etwas Bedrohliches über dem Plot. So beispielsweise auch in dem Album La Douce (dt.: Atlantic 12, Schreiber&Leser), in dem die Geschichte des Lokführers Leon van Bel geschildert wird. Van Bel fährt eine 12.004, eine Lokomotive, die tatsächlich in Belgien existierte. Allerdings scheint seine Zeit und die seiner Lok dem Ende entgegen zu gehen. Denn eine Überschwemmung biblischen Ausmaßes, von der der Leser nicht erfährt, was ihr Ursprung ist, macht ein Befahren der Gleise immer schwieriger. Die Zukunft gehört den Seilbahnen, die in luftiger Höhe die Wasser gefahrlos überqueren können.
Für Schuiten, der zu dem Band auch das Skript lieferte, eine Metapher für das Netz, das uns alle weltweit umgibt.

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Special vom: 21.09.2016
Autor dieses Specials: Bernd Hinrichs
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Editorial von Georg F.W. Tempel
Interview mit Andreas Martens
Das Allerletzte
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