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Zeit als Schicksal

Zeit als Schicksal

Das „Zeit“-Motiv erscheint in Comics auch in anderer Gestalt als in Zeitreisen oder Zeitkrisen. Diese Erscheinungen ähneln zwar den anderen „Zeit“-Motiven in vielerlei Hinsicht: Zum Beispiel tauchen auch hier Zeitanomalien auf. Jedoch besitzen sie auch eigenständige Merkmale. „Zeit“ wird hier abstrakter. Es gibt keine Zeitmaschinen oder Zeitlöcher. Dafür gibt es beispielsweise oftmals Verknüpfungen verschiedener Epochen.

„Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“

Die Story der Fantasy-Heftserie „Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“ (1985) stammt von Serge Le Tendre und Régis Loisel. Die Protagonisten dieses Comics, Pelissa und der Ritter Bragon, begeben sich auf die Suche nach einem Zauberwesen, um dessen Hilfe zu erbitten.
In ferner Vorzeit wurde der böse Gott Ramor verbannt. Denn vergeblich versuchte er seine Artgenossen zu stürzen, um die Herrschaft uneingeschränkt zu besitzen. Viele Jahre später ist der Abtrünnige Gott in Vergessenheit geraten. Der Fluch, der ihn in seine Schranken verwies, beginnt seine Wirkung zu verlieren. Ramor sinnt auf Rache für seine Gefangenschaft. Das friedlebende Reich Akbar ist dadurch bedroht. Zur Erneuerung der Verbannung Ramors benötigt man aber mehr Zeit, um die Zauberformel zu erneuern. Daher ist Akbar auf die Fähigkeiten des „Vogels der Zeit“ angewiesen, weil nur er die Zeit stoppen kann, wodurch wieder genügend Zeit geschaffen würde, um die Formel auszusprechen.

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Dieser phantastisch versierte Comic, mit seinen Parallelen zu vergangenen Mythologien (1) behandelt das Thema „Zeitlichkeit“ in mehrfacher Hinsicht. Einmal ist „Zeit“ die Ausgangslage zur Entstehung der Gefahr, weil die Vergangenheit achtlos in Vergessenheit geraten ist, so dass das Versäumnis aus vergangener Zeit in der Gegenwart zum Verhängnis wird. Außerdem ist „Zeitlichkeit“ als Schicksal im Sinne der Zeit, die noch verbleibt bevor Unheil droht, zu verstehen. (2) Und schließlich tritt „Zeit“ als mögliche Befreiung von der Gefahr auf, nämlich durch den „Vogel der Zeit“, der die Zeit steuern kann. Hier wird also ähnlich wie bei dem Motiv „Zeitreise“ der Wunsch der Menschen erkennbar, die Zeit zurückzudrehen oder anzuhalten, um dadurch Fehler in der Vergangenheit ausgleichen zu können.

„Extra Muros: Der Zyklus von Mordange“

Die „Extra Muros: Der Zyklus von Mordange“ von Daniel Hulet (2004-2006) stellt eine Genre-Mischung aus Elementen der Fantasy und der Science-Fiction dar. Seine Story schildert eine schicksalhafte Verbindung der historischen Templerritter mit verschiedenen Protagonisten aus der Gegenwart in einem französischen Dorf.

Verschiedene Personengruppen scheinen in Verbindung zur Historie zu stehen: Eine Gruppe junger Rollenspieler geht in der französischen Provinz, in einem Wald ihrer Freizeitaktivität nach, das heißt sie rekonstruieren auf spielerische Weise die Geschichte. Ein Bauherr plant zusammen mit anderen geldgierigen Funktionären auf diesem Gelände einen keltisch nachempfundenen Vergnügungspark zu errichten. Die Verbindung der Zeiten wird durch eine Spur der Templer möglich, die als Gravur in dem Grabstein einer Kapelle erhalten ist. Die Zusammenhänge mit der Geschichte der Templer werden noch intensiver als ein weiterer Protagonist, der Magier Arthur, in Kontakt mit einem Templergeist aus der Grabkapelle gerät. Es stellt sich heraus, dass die Templer zu ihrer Zeit Raumschiffe entdeckt haben, die sich lange Zeit zuvor in die Erde vergraben hatten. Arthurs Schicksal ist es nun, das durch Visionen aus der Vergangenheit zu erfahren. Ähnlich wie die Figuren aus der Gegenwart hatten also auch schon die Templer ihrerseits Gegenstände aus der Vergangenheit entdeckt. Arthur beschwört im Laufe der Geschichte eine Zauberformel, durch die der vorige Tag mit dem Heute zu einem Tag verschmilzt. Anders als bei Zeitreisen handelt es sich hier um einen temporären Prozess; für die kurze Dauer des Zauberschwurs sind zwei Tage in einen Zeitraum verbunden. Der anfangs beschriebene Durchbruch der Dichte der Zeit wird versinnbildlicht durch den Ausbruch der Raumschiffe.

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(c) 2003 Castermann

Der Anstoß der Ereignisse ist in dieser Erzählung die Neugier an der Historie. Der Grabstein und die vergrabenen Raumschiffe symbolisieren vergangene Epochen, welche ausgehöhlt werden, was sozusagen die „Büchse der Pandora“ öffnet. Auffällig ist hierbei, dass die von den zeitgenössischen Protagonisten entdeckten Raumschiffe, die eigentlich Ikonen für Fortschritt und Zukunft sind, von Hulet in die Geschichte zurückverlagert werden. Zudem tritt „Zeit“ als Motiv in Form von Manipulation von Zeit und Raum durch Arthurs Zauberformel in Erscheinung. In „Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“ muss ein Zauberspruch rechtzeitig erbracht werden, um eine Gefahr abzuwenden. In „Extra Muros“ löst ein Zauberspruch zum einen zeitliche Verwirrung aus und befreit zum anderen verborgene Geheimnisse. In dem zuerst genannten Comic hat man Vergangenes leichtsinnig vergessen. In „Extra Muros“ herrscht dagegen ein starkes Interesse an vergangene Zeiten vor. Handelt es sich aber bei „Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“ eher um ein Symbol für die Sehnsucht, Vergangenes im Nachhinein beeinflussen zu können, so findet sich dies zwar auch in „Extra Muros“ (durch den Zauberspruch will Arthur seinen Vater retten), aber das Interesse an der Vergangenheit wird hier auch zur Bedrohung für die Figuren.

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(c) 2004 Castermann 

Dies ließe sich dahingehend interpretieren, dass man sich zwar mit Vergangenem beschäftigen sollte, dabei aber auch bestimmte Grenzen nicht überschreiten darf. Das wird bereits durch den Titel des Comics angedeutet: „Extra Muros“, der lateinische Ausdruck für „außerhalb der Mauern“, weist darauf hin, dass man sich bei der Erforschung historischer Zeiten innerhalb der Mauern bewegen sollte, um sich nicht in Gefahr zu bringen, wie es beispielsweise der Protagonist Arthur durch seinen Zauber getan hat. Denn im alten Rom war der Raum außerhalb der Stadtmauern ein gemiedener Ort: „Erinnern wir uns daran, dass für die alten Römer der geheiligte Raum der Stadt […] den Schutzraum par excellence repräsentierte: den Raum, in dem das Recht herrscht. Deshalb begruben sie ihre Toten auf Friedhöfen, die außerhalb der Mauern lagen: Es ist nicht gut, wenn sich die Geister unter die Lebenden mischen“ (3). Die „Büchse der Pandora“ sollte folglich besser verschlossen bleiben.

„The Fountain“

Die Graphic Novel „The Fountain“(2005) ist parallel als „Director’s Cut“ zum gleichnamigen Film erschienen und weist wie „Extra Muros“ Elemente der Fantasy und der Science Fiction auf. Der Regisseur des Films, Darren Aronofsky, arbeitete auch an der Graphic Novel als Autor, mit dem Zeichner Kent Williams zusammen. Die Handlung besteht aus einem männlichen Protagonisten, der die Liebe zu seiner Frau unter Beweis stellen will. Das tut er in drei verschiedenen Zeitepochen. Die beiden Figuren sind dabei in allen drei Epochen die gleichen – nur ihr Äußeres und ihre Namen sind an die jeweilige Zeit angepasst. Die erzählte Zeit folgt dabei nicht dem klassischen Schema Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, vielmehr wechseln sich die Zeiten hier ständig ab.

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(c) The Fountain erschienen bei Panini 

1535 bekämpft Thomas als spanischer Eroberer eine Maya-Armee, um einen mysteriösen „Baum des Lebens“ zu finden, der von den Mayas bewacht wird. Der Baum soll ihm und seiner Geliebten Isabel, der Königin von Spanien, das ewige Leben schenken. Im 21. Jahrhundert will Tommy als Neurowissenschaftler aus einer lateinamerikanischen Pflanze ein Medikament zur Heilung seiner tödlich an Krebs erkrankten Frau Izzi herstellen. Das Pflanzenextrakt soll aus dem Lebensbaum stammen. Im Jahr 2463 bewegt sich Tom als Entdecker in einer Art „Nebula“, einer hermetisch abgeschlossenen, kreisförmigen Mikro-Atmosphäre im All fort. In dieser Zukunft erinnert sich Tom an seine verstorbene Frau. Die „Nebula“ speist sich durch den ausgezehrten „Baum des Lebens“, der zu seiner Rehabilitation die Energie eines sterbenden Sterns braucht, weshalb Tom diesen sucht.

„Zeit“ erscheint auch in „The Fountain“ als schicksalhaftes Motiv: alle drei Zeitperioden zeigen den Protagonisten dabei in einem Kampf gegen die Zeit. Die Entwicklung geht von einem physischen Kampf über in die wissenschaftliche Forschung hin zu der spirituellen Grenzerfahrung, wobei stets auch der Baum des Lebens eine Rolle spielt. Dieser Vergeistigungsprozess konnte bereits bei den Comics mit dem „Siebenschläfer“-Motiv und den „Zeitreise“-Comics beobachtet werden. Nur mit dem Unterschied, dass „The Fountain“ diesen Prozess innerhalt einer Geschichte darstellt. Im Gegensatz dazu, ist der Prozess bei den anderen Comics lediglich von außen als Betrachter von mehreren, voneinander unabhängigen Comics, aufgefallen. Der Kampf gegen die Zeit wird für den Protagonisten Thomas, Tommy beziehungsweise Tom zum Kampf gegen den Tod, den er nicht akzeptieren kann. Seine Frau hilft ihm letztendlich, diese Angst zu überwinden.

„Der Schimpansenkomplex“

Die Trilogie „Der Schimpansenkomplex“ (2009) ist dem Genre der so genannten „Hard“ Science-Fiction zuzurechnen. In diesem Sub-Genre liegt die Gewichtung mehr auf „Science“ als auf „Fiction“. Die Trilogie wurde von Richard Marazano geschrieben und Jean-Michel Ponzio gezeichnet. Der Titel verweist auf einen Begriff, der aus der Psychologie (4) entlehnt ist.

Helen Freeman arbeitet für die NASA. Ihr Traum ist es, als erster Mensch auf dem Mars zu landen. Im Jahr 2035 stürzt im indischen Ozean eine alte Weltraumkapsel ab. Freeman identifiziert die Überlebenden als die Raumfahrer Neil Armstrong und Buzz Aldrin, die 1969 als Erste den Mond betraten. Kurz darauf sterben die beiden Astronauten. Vor dieses Rätsel gestellt, entsendet die NASA ein Jahr später, für Nachforschungen, ein Team um Helen zum Mond. Doch die Fragen werden eher mehr als weniger, so dass die Crew zum Mars weiterfliegt. Dort begegnet Helen auf der seit 70 Jahren vergessenen sowjetischen Marsbasis unter anderem dem 1968 verstorbenen Kosmonauten Juri Gagarin. Auf dem Rückflug erwacht sie zusammen mit nur noch einem weiteren Crewmitglied aus dem Kälteschlaf. Sie stellen fest, dass sie irgendwo im Weltall herum driften und, dass ihr Raumschiff mit einem riesigen, unbekannten Flugobjekt verbunden ist.

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Das Motiv „Zeit“ ist bei „Der Schimpansenkomplex“ ein wesentlicher Bestandteil der Erzählung. Die Figur Juri Gagarin diskutiert mit Helen Freeman das Prinzip der so genannten „Heisenbergschen Unschärferelation“ (5). Und darin liegt der Schlüssel zum Verständnis der Story. Demnach kann die Position eines Raumfahrers zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht genau festgelegt werden. Dadurch kann auch die zweifache Rückkehr der Astronauten – im Jahr 1969 und im Jahr 2035 im indischen Ozean – erklärt werden. Wie in „Extra Muros“ oder „The Fountain“ schimmert auch im „Schimpansenkomplex“ eine Verknüpfung verschiedener Epochen durch. „Zeit“ ist hier das Rätsel.

Vergleich

„Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“, „Extra Muros“, „The Fountain“ und „Der Schimpansenkomplex“ haben gemeinsam, dass „Zeit“ das Schicksal der Akteure prägt. Im Einzelnen treten jedoch Unterschiede hervor. Im ersten Comic ist „Zeit“ der Ausgang von Gefahr. Sie kann hier als Gegner sowie als Erlösung gleichzeitig angesehen werden. Im zweiten Comic ist „Zeit“ an sich nicht als Gegner anzusehen. Die Neugierde für die Geschichte und die Verknüpfung von Vergangenem mit der gegenwärtigen Zeit werden aber zum Risiko. Bei „The Fountain“ ist „Zeit“ wieder als Gegner der Hauptfigur anzusehen. Hier kann „Zeit“ aber auch als Ziel, in Form des Sieges über den Tod, und als roter Faden durch die Jahrhunderte hinweg verstanden werden. Vorrangig werden die Ängste der Menschen vor dem sicheren Ende ihrer Lebenszeit, dem Tod, behandelt. Ähnlich wie der Protagonist können sich viele nur schwer mit diesem Schicksal abfinden und sehnen sich stattdessen nach dem ewigen Leben. Im vierten Beispiel ist „Zeit“ ein Mysterium, das es zu lösen gilt und Anlass bietet, Nachforschungen in der Historie der Raumfahrt zu machen. Alle Comics behandeln mehr oder weniger das Thema „Tod“ beziehungsweise die angst vor dem Tod oder den Wunsch diesen zu überlisten, indem man die Zeit manipulieren kann. Und hier schließt sich auch der Kreis zu den eingangs beschriebenen Motiven der Druckgraphiken des Mittelalters und der Bilderbogen des 19. Jahrhunderts, die mit ihren „Weibermühlen“ oder „Männermühlen“ eine „Verjüngungskur“ darstellen, die den Wunsch nach Unsterblichkeit und die Angst vor dem zeitlichen Ende ausdrückt.

(1) Zum Beispiel erinnert das „Land der wallenden Nebel“ an das „Niflheim“ aus der Germanischen Mythologie.
(2) Vgl. Knigge, A. C.: Comics. Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer. Hamburg (Rowohlt) 1996, S. 295.
(3) De la Croix, A.: Ein Durchbruch. In: D. Hulet: Extra Muros: Der Zyklus von Mordange, Bd. 1. Die Teufelskralle. Köln (Ehapa) 2004, S. 47.
(4) „Dieser Komplex wurde das erste Mal bei Schimpansen festgestellt, die als Versuchstiere für Weltraumflüge dienten. Schimpansen sind intelligent genug, um zu verstehen, dass sie bei einem Experiment mitmachen, das sie nicht unter Kontrolle haben. Aus diesem Widerspruch zwischen der Fähigkeit zu verstehen und der Unfähigkeit, sie zu kontrollieren, entsteht Stress, der einen in den Wahnsinn treiben kann“ (Marziano, R.; J.-M. Ponzio: Der Schimpansenkomplex, Bd. 1. Paradoxon. Bielefeld (Splitter) 2008, S. 16).
(5) Freeman: „Die besagt, dass man die genaue Position eines Teilchens zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht exakt festlegen kann? Dass man nur eine Wahrscheinlichkeit der Präsenz dieses Teilchens definieren kann? Aber was hat das mit […] ihnen [zu tun]?“
Gagarin: „Die Wahrscheinlichkeit der Präsenz…“
Freeman: „Aber diese Unschärferelation lässt sich nur auf Elementarteilchen anwenden, die den Gesetzten der Quantenphysik unterliegen und niemals auf reale Körper! Elementarteilchen kennen die physikalischen Gesetze nicht, denen sie unterliegen…“
Gagarin: „Uns erging es genauso, als wir die Erde zum ersten Mal verliessen [sic!]! Heute sehe ich die Dinge anders… Durch die Menschen hat sich das Universum erstmals mit einem eigenen Bewusstsein ausgestattet! Wir sind zum Bewusstsein des Universums geworden“ (Marziano, R.; J.-M. Ponzio: Der Schimpansenkomplex, Bd. 2. Die Söhne von Ares. Bielefeld (Splitter) 2008, S. 37-38).



Special vom: 30.11.2009
Autor dieses Specials: Marco Behringer
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